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„Ich habe in Nicaragua natürlich keinen Nordgau gegründet“

19. Februar 2009

Leo Gabriel im Interview über sein 1968, Südamerika, Heldendenkmäler und was er vom Nordgau mitgenommen hat

Interview von David Geist und Florian Kührer

leogabriel1In der Festrede zum heurigen Rosenkranzfest hat Cbr. Petrus Stockinger (Rheno-Juvavia Salzburg und Rudolfina Wien) aus dem Stift Herzogenburg eine zentrale Frage gestellt: Wofür stehen wir eigentlich? – Wofür steht Leo Gabriel?

Für Veränderung auf verschiedenen Ebenen. Auf der geistigen Ebene, die für Kreativität steht, denn nur aus dem Schöpferischen heraus kann Entwicklung entstehen. Für soziales Engagement und damit auch für soziale Veränderung. Es scheinen sich einige Dinge, die schon 1968 gefordert wurden, nun langsam zu verwirklichen, wenn man z. B. den Aufschrei gegen den Turbokapitalismus hernimmt. Ich habe aber versucht, die Sachen nicht nur zu denken, sondern sie auch zu tun, stehe also auch für die Verbindung zwischen Theorie und Praxis. Im Grunde ist es sozialkritische Motivation, die mich vorantreibt.

Von der großen Welt ein Blick in die kleine. In einem Interview haben Sie sich für die Zeit vor 1968 als Konservativer eingestuft. Ist Paris 1968 der große Bruch in Ihrer Biographie?

In meiner Mittelschulzeit und teilweise auch in meiner Studentenzeit war ich mit der katholischen Jugend sehr verbunden und bin vor 1968 auf der Seite der Konservativen gestanden. In jener Zeit war der ÖCV auch in einer Umbruchsphase. Durch 1968 kam ich in das Umfeld von Werner Vogt und Friedrich Heer, die angeeckt sind, ich weiß nicht, ob sie so wie ich, gehen mussten. Ich war von 1968 bis 1976 durchgehend nicht in Wien, habe dann aus der Ferne einen Artikel über Ivan Illich geschrieben, der anscheinend viel Aufsehen erregt hat und zum Stein des Anstoßes geworden ist.

Was ist von 1968 tatsächlich geblieben?

Auf der Ebene der Regierungspolitik leider sehr wenig. Ich sehe 1968 als eine Art Kulturrevolution im weitesten Sinn, die Studenten haben sich gegen die institutionalisierte, bürokratisierte Gesellschaft gewendet, sowohl im Westen, als auch im Osten, denn auch der Prager Frühling hängt mit dem Pariser 1968 zusammen. Man würde 1968 unrecht tun, würde man die Ereignisse nur auf die ideologische Schiene schieben. Sehr viele dieser Gedanken haben sich weiterentwickelt, die Politik jedoch nicht.

Warum?

Jetzt kann ich es sagen – weil wir verloren haben. Es gab meiner Meinung nach sowohl im Westen als auch im Osten eine überproportionale Reaktion gegen die 1968-Bewegung, sei es mit der Niederschlagung der Berkeley-Bewegung oder der Einmarsch der Sowjets in Prag. Und ich glaube, heute tut dies vielen Leid oder es sollte ihnen zumindest Leid tun. Was hat es gebracht, dass der Vatikan den Aufbruch 1968 systematisch bekämpft hat? Heute kämpft die Kirche in Lateinamerika mit Evangelikalen und Sektierern. Das heißt jetzt nicht, dass wir 1968er immer Recht gehabt haben. Wir hatten ja keine Dogmen, aber wir haben uns die Suche zu unserer Aufgabe gemacht, den Weg als Ziel empfunden. Insofern ist die 1968er-Bewegung keine machtpolitische Größe, aber eine geistige Entwicklung.

Woher rührt Ihre Motivation für Ihr politisches Engagement?

Ich bin eigentlich ein außergewöhnlicher Linker, verstehe mich nicht als Marxist, sondern handle aus christlicher Motivation. Ich bin also von der anderen Seite zur Linken gekommen. Auch die Revolution in Nicaragua ist mehrheitlich von Christen getragen worden, Ernesto Cardenal war ja einer der geistigen Väter dieses Umbruchs.

Aus der 1968er-Bewegung sind auch Leute hervorgegangen, die sich heute offensichtlich nicht mehr an den Idealen dieser Bewegung orientieren. Warum passiert es so oft, dass sozial engagierte Menschen, wenn sie in Positionen kommen, die sie nicht mehr zum Objekt ihrer eigenen sozialen Betrachtungen machen, ihre Ideale verraten?

Eine sehr interessante Frage, die stark an der Wurzel rührt. Viele haben sich gewendet im Laufe der Zeit, wie zum Beispiel der Hasi Ostenhoff, der Auslandschef beim Profil ist und heute für die NATO ist. Selbst Daniel Cohn-Bendit ist heute in verschiedensten Fragen auf der andern Seite der Bewegungen zu stehen gekommen. Ich glaube es ist auch die verführerische Macht, die die Leute dazu verleitet, innerhalb der etablierten Gesellschaften Kompromisse zu schließen. 1968 waren wir nahe daran, dass wir durch Bewegungen die Welt verändern. Es ging nicht um bestimmte Ideologien, die dann staatsmächtig werden sollten.

Wie würden sie in diesem Zusammenhang Hugo Chávez einordnen? Hat der die Schwelle zur autoritären Politik überschritten?

Chavez war kein Teil der Bewegung, sondern ein Unterstützer. Seine Bewegung war 1988 eine spontane Antwort auf eine fürchterliche Repression, die vom Sozialdemokraten Carlos Andres Perez ausging. Chavéz hat sich innerhalb des Militärs dagegen ausgesprochen, auf das Volk zu schießen. Er war aber keiner von denen, die die Bewegung vorangetrieben haben. Chavez ist zu einer Art Leitfigur geworden, die Bewegung hat sich auf ihn zugespitzt. Ich würde ihn aber im Vergleich zu anderen nicht als übertrieben autoritär bezeichnen, der mexikanische Präsident setzt beispielsweise gerne die Armee ein und hält so das Land nieder. In Venezuela gibt es hingegen nach wie vor Pressefreiheit und eine nicht zu unterschätzende Opposition.

Bleiben wir bei Helden und Köpfen, nämlich bei Siegfriedkopf und Che Guevara-Büste. Warum braucht die Welt steinerne und bronzene Idole?

Ich glaube in jeder Kultur ist der Drang nach gemeinsamen Symbolen vorhanden. Ich war lange gegen Personkult und Heldenverehrung, aber es zeigt sich, dass an diese leeren Stellen meist irgendwelche Bürokraten kommen, die nicht die Möglichkeiten haben, verbindend zu wirken. Die Gesellschaften werden meistens segmentiert oder wie die EU zu einer abgehobenen Sache, die mit der Bevölkerung nicht mehr viel zu tun hat. Helden zu ehren ist an sich noch keine politisch gute oder schlechte Sache. Che Guevara ist ein Sinnbild für menschliche Ausdauer und Überzeugungskraft geworden. Er hat sich auch bei widrigsten Umständen nicht abbringen lassen von seiner Idee. Leute wie Che turnen die Jugend mehr an als irgendein programmatischer Bezugspunkt. Bei Siegfried kenne ich mich zu wenig aus.

Konkret: Vor wenigen Jahren hat man dem umstrittenen Siegfriedkopf im Universitätshauptgebäude in einen neuen Kontext gestellt, der sich kritisch mit seiner Symbolik auseinandersetzt. Vor ein paar Wochen wurde im Wiener Donaupark eine Bronzebüste von Che Guevara aufgestellt und feierlich eingeweiht. Wie passt das zusammen?

Man kann verschiedener Meinung zu Che Guevaras Büste sein, ich bin ein wenig kritisch, mir gefällt die Büste nicht. Aber dass man neben anderen (Simón Bolívar, José Martí und Salvador Allende, Anm.) auch eine Büste vom Che Guevara aufstellt, ist in Ordnung, jeder Jugendliche hat heute ein Leiberl von Che Guevara …

… auch Strache schmückt sich mit ihm …

… auf der einen ist er „StraChe“ und auf der anderen Seite stellt er sich hin und sagt, Che Guevara war ein Mörder.

War er ein Mörder?

Nein. Wenn eine Auseinandersetzung durch einen Guerillakampf geführt werden muss, geht es hart auf hart, ich habe das selbst miterlebt in Nicaragua. Wenn die Staatsmacht einem nachstellt und man sich für einen Befreiungskampf entscheiden muss, kann man nicht gewaltlos agieren. Und dann sollte man gleichzeitig auch nach Massakern fragen, wie sie bei Batista oder im Fall der bolivianischen Militärdiktatur regelmäßig vorgekommen sind. Wenn dagegen Bewaffnete Widerstand leisten, gibt es eben auch Tote.

Sie schreiben in ihrem Buch „Politik der Eigenständigkeit“ von den „Viren, Parasiten und bösartigen Tumoren der nationalstaatlichen und globalisierten Politik“. Wäre es für sie in einer Demokratie gerechtfertigt, gegen die „Parasiten und Viren“ mit Gewalt vorzugehen?

Nein, in dieser Hinsicht bin ich völlig auf Ebene der katholischen Glaubenslehre: wenn es eine langandauernde Diktatur gibt, die Veränderungen auf demokratischen Weise unmöglich macht, dann ist Gewalt gerechtfertigt. Nicht aber in einem Umfeld, in dem andere Mittel eingesetzt werden können. Meist sind Revolutionen aus solchen Situationen heraus entstanden. Meist wurde zuerst in die Massen geschossen.

Womit wir bei der „Patria“ gelandet sind. Wären Sie noch Nordgauer, wenn Sie nicht gehen hätten müssen oder wären Sie irgendwann von selber gegangen?

Ich versuche mit allen ein offenes Gespräch zu führen. Ich habe von meiner Seite her keine Feindschaften, und ich würde gerne die Nordgauer einladen, sich an meinem Projekt zu beteiligen, mit dem ich bei den nächsten EU-Wahlen antreten möchte: „Europa für alle“. Dieses Projekt soll nicht nur für einen bestimmten Teil des europäischen Modells, nämlich die EU, stehen, das zu Recht kritisiert wird. Ich habe dabei kein fertiges Rezept, es geht viel mehr darum, einen Diskussionsprozess voranzutreiben. Ich kann mir gut vorstellen, dass es auch im Bereich der Studentenverbindungen darüber Diskussionen gibt, ein Dialog wäre schön. Ich breche mit niemandem.

Bei aller biographischen Distanz – hat Sie die Zeit bei Nordgau auch positiv geprägt?

Ja. Ich habe Zusammengehörigkeitsgefühl kennengelernt. Zudem gab es, zumindest in den Kreisen, in denen ich mich aufgehalten habe, ein politisches Denken – man hat sich für Politik interessiert. Wenngleich ich aus meinem heutigen Umstand sagen muss, dass die politischen Inhalte nicht die meinen sind. Aber ich habe sehr viele methodische und strukturelle Ideen übernommen und adaptiert, zum Beispiel als ich in Nicaragua agiert habe. Ich habe dort natürlich keinen Nordgau gegründet, sondern andere Organisationen, aber die Grundstruktur ist eine ähnliche. Und die ist gar nicht so schlecht. <>

Dr. Leo Gabriel ist Publizist und Sozialanthropologe, 2004 Spitzenkandidat bei der Wahl zum Europaparlament für die „Linke Liste“. Leiter des Instituts für interkulturelle Forschung in Wien und Mitbegründer des Weltsozialforums. 25 Jahre in Südamerika, 20 Jahre Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Lateinamerikaforschung in Wien. Nordgauer bis 1976.

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